Das steinerne Weiberl (Wultschau)

Fährt man von Weitra nach Harbach und weiter nach Wultschau, so sieht man ungefähr in der Mitte zwischen diesen beiden Orten eine große Granitsäule. Betrachtet man die Säule von rückwärts, so ähnelt sie sehr einem Weiblein, das ein großes Kopftuch, eine Gugel, trägt. Darüber erzählt man folgende Geschichte:
Vor langer Zeit wohnte in einem der Orte eine Frau, die sehr geizig war. Obwohl sie viel Grund besaß, schien ihr der Besitz zu gering und sie trachtete immer nach mehr. Schließlich kam ihr der Gedanke; die Grenzsteine auszugraben und weiter auf die Nachbargrundstücke hinüberzusetzen und so ihre Grundstücke zu vergrößern.
Nachts hatte sie gerade wieder einen der Grenzsteine versetzt, da kam der Nachbar zufällig des Weges. Er erinnerte sich, daß ja der Stein ganz woanders hingehörte und stellte die Frau zur Rede. „He, Nachbarin“, sagte er, „ich glaube, du hast meinen Grenzstein versetzt. Ich denke, er soll hier gleich neben der Straße stehen!“ „Ja, was glaubst denn du von mir!“ rief darauffiin das Weiblein und stampfte zornig auf die Stelle, wo einst der Stein stand. „Ich soll ihn versetzt haben? Da würde ich die Sünde zu sehr fürchten. Der Herrgott sei mein Zeuge! Auf der Stelle soll ich zu einem Stein werden, wenn ich das getan habe!“ Damit wollte sie sich abwenden und weggehen. Da geschah das Seltsame. Sie konnte ihre Beine nicht mehr bewegen, sie konnte Hände und Kopf nicht mehr rühren. Allmählich nahm alles die graue Farbe des Granites an und nach einigen Minuten stand das Weib versteinert an der Stelle, an der es den Stein ausgegraben hatte.
Voll Entsetzen lief der Nachbar nach Harbach, wo er die Leute zusammenrief und sein Erlebnis erzählte. Sofort machten sich alle auf den Weg und gingen zum Ort des merkwürdigen Geschehens. Tatsächlich fanden sie die Frau, still und stumm, zu Stein geworden. Niemand rührte daran und man ließ sie stehen bis zum heutigen Tag.
Ungern gehen die Leute vorbei, besonders in der Nacht. „Es ist nicht ganz geheuer auf diesem Platz“, meinte ein alter Mann dazu, „mein Großvater hat noch erzählt, daß er neben der Steinsäule vor langer Zeit einen Sarg stehen gesehen und daß man oft das Jammern und Seufzen des Weibleins gehört hätte, das noch immer keine Ruhe gefunden hat.“

Quelle: Waldviertler Heimatbuch, Helmut Sauer, Verlag Josef Leutgeb, Zwettl, 2. Auflage 1977, Band I
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