Das Leebern

Als die Stadt noch lange nicht so groß war wie heute, da war es Sitte, am Markustag (25. April) eine Grenzbegehung aller zur Stadt gehörigen Grundstücke zu machen.
Schon am Morgen versammelten sich dazu der Bürgermeister und die Gemeinderäte beim Rathaus. Auch eine Anzahl Schulbuben stand unter Führung eines Lehrers abwartend in der Nähe. Sobald alle beisammen waren, ging es los. Bürgermeister, Gemeinderäte und Schulbuben wanderten zum nächstgelegenen Grenzstein. Hier stellten sie sich auf und einer der Buben trat zum Bürgermeister. Dieser zeigte ihm nun genau die Stelle, an der der Grenzstein stand, und befahl dem Knaben, sich ja gut den Platz zu merken. Dazu zog er ihn fest beim Ohr, verabreichte ihm eine Ohrfeige und schüttelte ihn mächtig bei den Haaren.
Man war damals der gar nicht so unrichtigen Meinung, daß der Bub sich den Platz umso besser merke, je Schmerzhafteres ihm hier widerfahre. Dann ging es zum nächsten Grenzstein und der nächste Bub war an der Reihe.
War die Grenzbegehung erledigt, so ging man ins Wirtshaus, wo es noch einen kleinen Umtrunk auf Gemeindekosten gab. Die Buben erhielten anschließend als Belohnung vom Bürgermeister eine Handvoll Geld. So kam es, daß trotz der Ohrenbeutler, der Ohrfeigen und Haarreißer, die Knaben der Stadt ständig stritten, wer nächstes Jahr mitgehen dürfe.
Auch wird berichtet, daß die Stadt niemals Grenzschwierigkelten mit den benachbarten Gemeinden gehabt hat, da die auf solche Art den Bubengehirnen eingeprägte Lage der Grenzsteine, diese als erwachsene Männer immer leicht die Gemeindegrenzen bestimmen ließ.
Vielleicht wäre es auch in unserer heutigen Zeit manchmal recht gut, auf diesen alten Brauch zurückzugreifen. Man könnte damit dem Richter und den Rechtsanwälten viel Arbeit mit Streitigkeiten wegen der Grundgrenzen ersparen.

Quelle: Waldviertler Heimatbuch, Helmut Sauer, Verlag Josef Leutgeb, Zwettl, 2. Auflage 1977, Band I
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