DER VERSCHWUNDENE KNABE

Es war einmal ein Herr, der besaß ein unermeßliches Vermögen. Was nützte ich aber all sein Geld, wenn er keinen Erben hatte, und wahrlich, er war schon mehr alt als jung – der Arme. An jedem Tag ging er mit seiner Frau in den Dom und sie baten Gott, daß er sie mit einem Kinde segne. Schließlich erhörte sie Gott. Sie bekamen einen Sohn.
Das Kind war erst wenige Tage alt, da träumte der Vater, daß man den Knaben bis zum zwölften Lebensjahr davor behüten müsse, mit seinen Füßen den Boden zu berühren, wolle man Unheil verhüten. Als der Vater erwachte, berief er sofort neun Frauen, welche sich in der Pflege des Knaben ablösen mußten, und alle hatten strengen Befehl zu verhüten, daß der Knabe jemals mit seinen Füßen den Boden berühre.
Die Pflegefrauen befolgten diesen Befehl genau. Die Jahre vergingen und der Knabe wurde immer nur auf den Armen getragen. Jetzt fehlten nur mehr einige Tage bis zur Vollendung seines zwölften Lebensjahres.
Schon begann man mit den Vorbereitungen zu einem großartigen Fest, womit man den zwölften Geburtstag des Knaben feiern wollte, da erhob sich plötzlich auf der Straße ein großer Lärm. Die Pflegefrau, die den Knaben gerade auf den Armen hatte, wurde neugierig, und in diesem Augenblick vergaß sie ihre Pflicht. Sie stellte den Knaben zu Boden und lief zum Fenster. Der Lärm verstummte sofort. Die Pflegefrau wollte den Knaben rasch wieder auf die Arme nehmen, aber – wer schildert ihren Schrecken! – der Knabe war verschwunden. Sie begann zu weinen und zu jammern und alle Hausleute liefen herbei, auch der Herr. Zitternd erzählte sie was ihr widerfahren war. Den Vater ergriff unermeßliche Trauer. Er ließ im ganzen Hause jeden Winkel durchsuchen und schickte Boten nach allen Himmelsrichtungen, aber nirgends war eine Spur seines Sohnes zu entdecken.
Der Vater betrat das Zimmer des Kindes nicht mehr, so groß war sein Herzeleid.
Aber da bemerkte er eines Nachts, daß ein Lichtschein durch die Türspalte drang. Bebend vor Furcht und Hoffnung öffnete er die Tür, da sah er die Tochter des Müllers vor dem Bilde seines Sohnes knien und weinen. Das Mädchen war im gleichen Alter wie der verschwundene Knabe, und sie hatte ihn oft gesehen, wenn die Pflegefrauen ihn zum Fenster trugen.
Den Vater rührte die Anhänglichkeit des Kindes und er bedeutete dem Mädchen, es möge doch ruhig am Tage kommen, wenn sein Herz danach verlange.
Das tat das Mädchen nun auch, und bald wollte sie das Zimmer überhaupt nicht mehr verlassen. Darum erlaubte der Herr ihr, daß sie sich ihre Mahlzeiten in dem Zimmer des Knaben bereite und nachts in seinem Bett schlafe.
Eines Abends hatte das Mädchen gerade den Tisch gedeckt, da begann es im Zimmer zu rascheln, und vor ihr stand mit traurigem Gesicht der schöne Knabe.
„Für wen hast du gekocht?“ fragte er.
„Für mich“, sagte das Mädchen.
„Für wen hast du den Tisch gedeckt?“ fragte er.
„Für mich“, sagte das Mädchen wieder.
Da wurde er noch trauriger und in seinen Augen erglänzten Tränen.
„Für wen hast du das Lager bereitet?“
„Für mich“, sagte das Mädchen.
Da flossen dem Knaben die Tränen über die Wangen und er verschwand.
Das Mädchen sagte zu niemandem, was es erlebt hatte, aber am nächsten Abend deckte sie den Tisch früher als sonst und schöner als sonst.
Um die gleiche Zeit wie gestern raschelte es im Zimmer und vor ihr stand der Knabe.
Und wieder richtete er an sie die Fragen wie gestern.
Heute sagte das Mädchen aber nicht mehr „für mich“, heute sagte sie:
„Ich will gerne mit dir teilen.“
Der Knabe war wohl nicht mehr ganz so traurig wie gestern, er weinte auch nicht mehr, aber plötzlich, wie er gekommen, war er verschwunden.
Der dritte Abend kam. O wie schön und festlich hatte das Mädchen heute das Mahl bereitet, den Tisch gedeckt, das Lager gerichtet. Und zur bestimmten Stunde stand der Knabe vor ihr.
„Für wen hast du gekocht?“ fragte er.
„Für dich“, antwortete das Mädchen.
Ein leichtes Lächeln überzog sein bleiches Antlitz.
„Für wen hast du den Tisch gedeckt?“ fragte er.
„Für dich“, antwortete das Mädchen.
Da kam in die Augen des Knaben ein froher Glanz.
„Für wen hast du das Lager bereitet?“ fragte er.
„Für dich“, sagte das Mädchen.
Da lachte der Knabe glücklich auf.
„Nun darf ich bleiben“, rief er froh, „nun muß ich nicht mehr fort und kann immer bei dir bleiben.“
Am Morgen war die Sonne schon hoch gestiegen, aber des Müllers Tochter kam nicht aus dem Zimmer und nichts rührte sich darin. Dem Herrn wurde bange. Vielleicht war ihr etwas zugestoßen? Er wollte nach ihr sehen.
Wer schildert die Freude, als er die Tür öffnete und im Bett seinen Sohn sah, der neben der Müllerstochter schlief!
Das Mädchen blieb auch fortan im Hause des reichen Mannes, und als die Kinder erwachsen und sie ein schöne Jungfrau und der Knabe ein prächtiger Jüngling geworden waren, da wurden sie Mann und Weib und glücklich – mehr als man sagen kann.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

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