DIE DRACHENBRAUT

Ein Gutsherr hatte zwei Kinder, einen kleinen Sohn und eine schöne Tochter, die schon erwachsen war.
Dieser Gutsherr war ein leidenschaftlicher Fischer. Eines Tages nahm er wieder sein Netz und ging seiner liebsten Beschäftigung nach.
Gott weiß, wo seine Gedanken waren, er stand mit einemmal vor einem See, an dem er noch nie gewesen war. Er überlegte nicht lange und warf sein Netz aus. Kaum war das Netz unterm Wasser, da fühlte er es schwer werden, er zog es herauf und siehe da! Es war bis an den Rand voll mit herrlichen Fischen. Der Gutsherr freute sich und warf gleich noch ein zweites Mal das Netz aus. Und wieder zog er es voll mit Fischen aus dem Wasser. Das steigerte seine Begierde, und er wollte es eben noch ein drittes Mal auswerfen, da brauste über den See ein Sturmwind heran, die Wellen türmten sich und plötzlich tauchte neben dem Gutsherrn ein schwarzer Drache auf.
„Wie kannst du dich unterstehen, in meinem See zu fischen?“ schrie er mit furchtbarer Stimme.
Der Gutsherr bat um Entschuldigung und versprach dem Drachen die Fische zu bezahlen.
„Ich brauche dein Geld nicht, ich will nur deine Tochter!“
Da erschrak der Gutsherr sehr. Er bot dem Drachen sein ganzes Hab und Gut an, aber der Drache schrie mit seiner fürchterlichen Stimme:
„Die Fische waren meine Untertanen, du hast sie getötet, dafür verlange ich deine Tochter. In sieben Wochen, sieben Tagen, sieben Stunden werde ich sie mir holen.
Gleich darauf erhob sich wieder ein Sturmwind auf dem See und der Drache verschwand.
Der Gutsherr ließ die Fische liegen und kehrte nach Hause zurück. Seine Tochter kam ihm entgegen, aber er konnte ihr kaum ins Gesicht schauen.
„Bist du krank, lieber Vater, oder traurig, weil du heute keine Fische gefangen hast?“ fragte die Jungfrau besorgt.
„Oh, meine Tochter, wäre es doch so, daß ich keine Fische gefangen hätte“, seufzte der Vater und begann zu weinen.
Da lief auch die Frau herbei; sie bestürmten den Mann mit Fragen, und schließlich mußte er ihnen von dem Fürchterlichen erzählen, das sich begeben hatte.
Die Mutter brach in lautes Weinen aus, die Tochter aber, obwohl ihr bitter weh ums Herz war, versuchte die Eltern zu trösten.
„Schließlich kann man mich ja verstecken vor dem Drachen; wenn er mich nicht findet, kann er mich auch nicht holen“, meinte sie.
Da ließ der Vater einen starken Turm bauen, führte die Tochter hinein, versperrte die neun Türen, jede mit sieben Schlössern, und nun waren die Eltern beruhigt.
Die Frist verrann, sieben Wochen, sieben Tage, sieben Stunden waren vergangen, da erhob sich im Hof des Gutshauses ein starker Wind. Die Schlösser an den Türen des Turmes fielen, die Türen sprangen auf, noch einmal hörte man das Sturmgebraus, und als die entsetzten Eltern in den Turm liefen, war von der Tochter keine Spur mehr da.
Den Eltern barst vor Weh beinahe das Herz. Aber was sollten sie tun? Wo sollten sie die verschwundene Tochter suchen? Sie mußten sie Gott dem Herrn empfehlen und sich mit ihrem Unglück abfinden.
Der Vater gab das Fischen auf, und seinen einzige Freude war der Knabe, den die Frau bald darauf gebar. Der kleine Stefan wuchs heran und wurde schön wie eine Jungfrau. Der Vater lehrte ihn alles Notwendige und erzog ihn zu einem tüchtigen Mann. Daß er je eine Schwester gehabt hatte, verrieten die Eltern ihm nicht.
Eines Tages sah Stefan in einer alten Truhe ein Mädchenkleid. Mit Verwunderung betrachtete er es, als eben die Mutter ins Zimmer trat.
„Mutter, wem gehört dieses Kleid?“ fragte er.
„Mir hat das gehört, als ich jung war“, sagte die Mutter, nahm das Kleid aus seiner Hand und verwahrte es wieder in der Truhe.
Stefan aber sah, daß sie dabei weinte. Da drängte er in die Mutter, ihm doch die Wahrheit zu sagen, und schließlich erzählte sie ihm von der Schwester, die ein schwarzer Drache entführt hatte.
„Mutter, ich werde meine Schwester suchen und ich werde sie finden“, rief Stefan aus.
Die Eltern wollten ihm das ausreden, aber Stefan ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen und bat so lange, bis die Eltern nachgaben. Sie rüsteten ihn für eine weite Reise aus und die Mutter gab ihm beim Abschied noch einen leuchtenden Stein, damit er in der Nacht nicht ohne Licht bliebe.
Er wanderte lange, schließlich kam er auf eine große Wiese; dort gab es ein lustiges Schauspiel. Ein Löwe, ein Windhund und ein Rabe stritten sich um ein totes Schaf.
„Dort geht ein Mensch“, rief der Löwe, „er soll entscheiden.“
Der Windhund und der Rabe waren damit einverstanden.
„Gut, ich werde das Schaf verteilen“, sagte Stefan. „Dem Löwen soll das Fleisch gehören, dem Windhund die Knochen und dem Raben die Eingeweide.“
Damit waren die Tiere zufrieden. Der Löwe riß sich ein Haar aus seiner Mähne und gab es Stefan.
„bewahre dieses Haar; wenn du in Not bist, wirf es über deinen Kopf zurück und denke dabei an mich. Dann wirst du das können, was ich kann.“
Der Windhund gab ihm ein Haar aus seinem Fell und der Rabe eine Feder aus seinem Gefieder und sie sagte dieselben Worte wie der Löwe.
Stefan dankte den guten Tieren, verwahrte die Haare und die Feder in seiner Tasche, und während die Tiere an das Teilen der Beute gingen, suchte er seinen Weg weiter.
Wieder ging er durch Täler, über Berge und durch Wälder ujnd irrte umher, bis er völlig ermüdet und schwach zu einem Schloß kam, das ganz aus schwarzen Steinen erbaut war.
Er ging durch das erste Tor, das schloß sich hinter ihm von selbst, und nirgends sah er eine lebende Seele. Er ging durch das zweite Tor, auch dieses schloß sich hinter ihm, und auch das dritte Tor, durch das er ging. Als er in das Schloß hineingelangte, war auch dort alles still wie in einem Grab. Aber Stefan kannte keine Furcht. Er setzte sich auf einen Stuhl und wartete.
Er wartete lange, aber es kam niemand.
„Was ist denn hier los, sind denn hier alle gestorben? Ich bin hungrig“, rief er laut und erhob sich vom Stuhl
Kaum waren seine Worte verklungen, da stand vor ihm ein gedeckter Tisch mit einem guten Nachtmahl. Er überlegte nicht lange, setzte sich nieder und aß sich satt.
Als er sich dann umwandte, sah er in einer Ecke ein Lager wie für einen König bereitet.
Morgen werde ich nachforschen, wer mich so gastfreundlich aufgenommen hat, heute bin ich zu müde, dachte Stefan und ging schlafen.
In der Nacht schien es ihm, als ob jemand an seinem Bett säße, und manchmal glaubte er , jemanden seufzen zu hören, aber er war so müde, daß er den Schlaf nicht abschütteln konnte.
Am Morgen, als er aufstand, war das Frühstück schon für ihn gerichtet. Nach dem Frühstück ging er durch das ganze Schloß. Nicht einen Winkel ließ er aus, überall war alles in guter Ordnung, aber niemand zu sehen.
Als er wieder in sein Zimmer kam, war es Mittag geworden, und der tisch war gedeckt mit gutem Essen. Am Abend bekam er wieder sein Nachtmahl, aber Licht bekam er keines. Da nahm er seinen leuchtenden Stein hervor, der glänzte wie ein Stern. Als er sich auf das Lager legte, verbarg er den Stein in der Achselhöhle und nahm sich vor, diese Nacht zu wachen.
Im Zimmer war es finster wie in einem Horn und so still, daß man den Flügelschlag einer Fliege hätte hören müssen. Etwa um Mitternacht raschelte etwas. Stefan griff leise nach seinem Säbel und nach dem leuchtenden Stein. Er fühlte, daß jemand im Zimmer war, und dann hörte er seufzen.
„Ist jemand hier?“ rief er und ließ den Stein aufleuchten.
Wie erstaunt war er, als er eine schöne Frau vor sich sah. Sie war ganz schwarz gekleidet und sah sehr traurig aus.
„wer bist Du?“ fragte er und sprang rasch vom Lager auf.
„Ich bin seit vielen Jahren hier. Außer mir gibt es keine lebende Seele in diesem Schloß. Ach, laufe wieder weg, wenn die dein Leben lieb ist. Denn wenn der schwarze Drache kommt, wird er dich zerreißen.“
„Wie aber kommst du hierher?“ rief Stefan, der ganz aufgeregt geworden war, als sie von dem schwarzen Drachen sprach.
„Der schwarze Drache hat mich aus dem Turm, in dem meine Eltern mich vor ihm versteckte hielten, entführt.“
„Wenn dem so ist, dann bist du meine liebe Schwester“, rief Stefan voll Freude.
Als die Jungfrau hörte, daß der schöne Jüngling ihr Bruder Stefan sei, wußte sie vor Freude nicht aus noch ein. Aber bald wurde sie wieder traurig.
„Liebster Bruder, hier darfst du nicht bleiben. Der Drache würde dich in Stücke reißen. Heute wird er kommen. Jeden dritten tag kommt er und bleibt vierundzwanzig Stunden hier. Ich muß ihn füttern, ihm das Fell kraulen, und dann fliegt er wieder davon. So geht es in alle Ewigkeit, und niemand kann mir helfen.“
„Ich werde dir helfen, teure Schwester. Ohne dich kehre ich nicht nach Hause zurück“, beteuerte Stefan.
„Ach, Bruder, nur sein Tod könnte mich befreien, aber er ist unverwundbar“, antwortete traurig die Schwester.
„Aber irgendwo muß mein Schwert ihn doch treffen können“, beharrte Stefan.
„Wahrlich, danach werde ich ihn heute fragen“, rief die Schwester aus. Sie führte den Bruder durch viele leere Zimmer und versteckte ihn in einem Kellergewölbe.
Stefan nahm seinen Säbel in beide Hände und setzte sich hin, die Schwester aber kehrte in ihr Zimmer zurück.
Am Morgen erhob sich ein starker Wind im Hof, und der schwarze scheusälige Drache stob in das Zimmer, wo schon für ihn der Tisch gedeckt war. Obwohl die Speisen durch alle Zimmer dufteten , witterte der Drache einen fremden Geruch.
„ich rieche Menschenfleisch“, brüllte er.
„Gewiß hast du die Witterung von draußen mitgebracht“, sagte die Jungfrau. „Nun laß es dir gut schmecken, ich habe deine Lieblingsspeise bereitet.“
Da wandte er sich dem Tisch zu und aß mit großem Appetit. Dann legte er seinen Kopf inden Schoß der Jungfrau und sie mußte ihm das Fell kraulen. Da sprach sie:
„du bist so stark, keine kann dich töten, denn du bist unverwundbar – oder ist es nicht so?“
Der Drache wieherte. „Freilich ist es so. Nie werde ich sterben, solange mein älterer Bruder lebt, und den kann keiner töten, denn er ist stärker als ein Löwe. Und fände sie auch einer, der die Kräfte von zwanzig Riesen hätte, und würde der meinen Bruder töten, dann stürbe ich noch immer nicht. Denn aus dem toten Leib meines Bruders würde ein Hase entspringen. Den Hasen müßte man zerreißen. Dann flöge eine taube aus dem hasenleib. Die Taube müßte man töten, dann verlöre sie ein Ei. Wenn einer dieses Ei mir an die Stirn wirft, dann muß ich sterben. Das aber wird niemals geschehen, denn keiner weiß darum“, und wieder lachte der Drache wiehernd.
Als die Jungfrau das vernommen hatte, sprach sie nichts mehr und kraulte ihn so lange, bis er fest einschlief. Dann ließ sie seinen Kopf auf einen Kissen gleiten, und leise wie ein Schatten schlich sie zur Tür hinaus und kurz darauf stand sie im Keller vor dem Bruder. Rasch erzählte sie ihm, was sie soeben vom Drachen gehört hatte.
Stefan wollte sich gleich auf den Weg machen, die Schwester aber hielt ihn zurück:
„hier hast du eine Kürbisflasche. In dieser Flasche ist Wein. Wenn du davon trinkst, wirst du die Kräfte von zwanzig Riesen bekommen. Im Hof steht ein schwarzes Pferd. Das wird dich zum Bruder des Drachen tragen.“
Dann entließ sie ihn durch eine geheime Tür.
Stefan schwang sich in den Sattel des schwarzen Pferdes, und es trug ihn über Berge und Täler und Flüsse bis in das siebzehnte Land, wo es an einem Waldrand stehenblieb. Stefan sprang zu Boden und das Pferd verschwand.
Was tun? überlegte Stefan. Da erinnerte er sich an die Gaben der Tiere. Er nahm das Löwenhaar, warf es über seinen Kopf und dachte dabei an den Löwen und gleich war er selber ein Löwe. Unweit weidete eine Hirtin ihre Schafe. Sie erschrak furchtbar, als sie den Löwen sah. Aber er beruhigte sie, er sei ein Mensch wie sie, und erzählte ihr, daß er die Gestalt eines Löwen nur angenommen habe, um mit einem Drachen zu kämpfen. Dann bat er sie, seine Kürbisflasche aufzubewahren und in seiner Nähe zu bleiben, und wenn sie merke, daß er erschöpft sei, möge sie ihm rasch einen Trunk aus der Flasche reichen.
Das Mädchen versprach, alles nach seinem Wunsch zu tun. Stefan aber ging zum Wald und rief nach dem Drachen. Da kroch zwischen den Bäumen ein schreckliches ungeheuer hervor.
„Was rufst du mich, du menschlicher Wurm; willst du etwa mit dir kämpfen?“
„Freilich will ich das, komm und stell dich zum Kampf.“
Da setzte der Drache zum Sprung an und sie rangen miteinander und bald vermochte sich keiner mehr vom anderen zu lösen, so waren sie ineinander verkrampft. Schließlich machte der Drache den Vorschlag, ein wenig zu verschnaufen. Dem Löwen war dies auch sehr erwünscht, er war durstig und wollte sich stärken. Der Drache ging zum Fluß Waag. Dort kühlte er seinen Leib. Zum Löwen aber eilte die Hirtin und goß ihm aus der Kürbisflasche Wein in den Rachen. Im gleichen Augenblick fühlte der Löwe zwanzigfache Kraft in sich, und als er sich abermals zum Ringkampf mit dem Drachen stellte, riß er ihn auf den ersten Griff in der Mitte auseinander.
Kaum war das getan, sprang aus dem Drachenleib ein Hase hervor und jagte über das Feld davon. Stefan zögerte nicht, warf das Haar des Windhundes über seinen Kopf und konnte gleich dem Hasen nachjagen. Als er ihn eingeholt hatte, zerriß er den Hasen und aus dem toten Tier stieg eine Taube und nahm den Flug den Wolken zu. Stefan aber warf die Rabenfeder über seinen Kopf, und gleich darauf konnte er die Verfolgung der Taube aufnehmen. Auch die riß er in Stücke, und das Ei, das aus ihr herausfiel, verwahrte er sorgfältig.
Er flog zur Erde nieder, wurde wieder zum Menschen, dankte der Hirtin, setzte sich auf das schwarze Pferd, das sich sogleich bei ihm eingefunden hatte, und ritt zurück zum Schloß. Das Pferd flog über die drei Tore und erst im dritten Hof meldete es sich mit frohem Gewieher.
Hievon wurde der Drache wach, und mit einem Sprung war er im Hof. In der Faust schwang er eine starke Keule. Bevor er aber nach Stefan schlagen konnte, warf ihm dieser das Ei gegen die Stirne der Drache stürzte rücklings nieder, und gleich war er tot.
Da verwandelte sich das schwarze Schloß in ein herrliches weißes, und die Steine, die ringsum verstreut lagen, werden zu dem, was sie früher gewesen waren: zu Menschen, zu Vögeln, zu Blumen, und alles grünte und blühte, und alle dankten ihrem Befreier, am meisten die eigene Schwester, die nun mit Stefan zu den Eltern fuhr, um sie herzuholen in das wunderschöne Schloß.
Sie bestiegen wieder das Roß, das im Hofe wartete. Es war wohl früher des Drachen Roß gewesen, aber es diente lieber guten Menschen als einem bösen Geschöpf.
Sie waren sehr rasch zu Hause. Welche Freude! Gern folgten die Eltern ihren Kindern in das Land, in das Stefan sie nun führte.

Quelle: Slowakische Märchen; nacherzählt von Robert Michel und Cäcilie Tandler; Wilhelm Andermann Verlag Wien; 1944

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 
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