SCHLOSS GREIFENSTEIN

Die Burgherren auf Greifenstein gehörten ihres Ansehens und ihrer Macht wegen schon in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts zu den ersten Geschlechtern am schönen Donaustrome. Von ihrer hohen, unersteiglichen Felsenveste beherrschten sie das umliegende blühende Land und boten jedem feindlichen Angriffe Trotz.

Herr Reinard war ein Mann von anerkannter Tapferkeit. Von seiner Gemahlin, die er früh verlor, hatte er eine Tochter, namens Eteline — ein holdes, schönes Mädchen, um das sich der wilde, stets mit Fehde und Weidwerk beschäftigte Ritter wenig bekümmerte. Der Burgkaplan wurde dafür ihr zweiter Vater und erzog sie mit väterlicher Liebe und Sorge.

Eteline wuchs zur Bewunderung der ganzen Umgegend heran. Den stärksten Eindruck aber machte die Liebliche auf einen Edelknecht ihres Vaters, auf den jungen Rudolf, den das Fräulein vor allen Freiem, ohne daß sie es besonders wollte oder wußte, sehr lieb gewann.

Ihre Lage wurde dabei um so schrecklicher, als nun Reinard, der einige Zeit am Hoflager des Kaisers zugebracht hatte, seine nahe Rückkehr mit der Nachricht meldete, daß er für Eteline einen Bräutigam von hohem Range mitbringen werde. Es blieb dem armen Madchen daher keine andere Wahl, als sich dem frommen Emmerich, ihrem väterlichen Freunde, anzuvertrauen. Dieser wußte vorläufig nur die eine Aushilfe, sie dem ersten Zornausbruch des harten Herrn von Greifenstein durch die Flucht zu entziehen.

Er sandte das jammernde Mädchen mit Rudolf durch den unterirdischen, jetzt verschütteten Burggang in den Wald hinaus, versah sie mit Brot und Wein und versprach, ihnen auch in Zukunft Nahrung zu bringen. Bald nachdem das unglückliche Paar sich in der finsteren, feuchten Erdschlucht verborgen hatte, kehrte der Ritter mit dem reichen Eidam heim und wollte allsogleich zu Etelinen. Emmerich sagte Sie in seiner Not als krank und sehr schwach an und bat, sie für heute ruhen zu lassen, weil er Zeit gewinnen wollte, den Ritter vorzubereiten.

Gegen die Erwartung Emmerichs besuchte aber Reinard schon am frühen Morgen des nächsten Tages das Gemach seiner Tochter, die er nicht fand. Zornentbrannt rannte er zum Kaplan. Dieser, auf die Macht der Beredsamkeit sich verlassend, brachte dem Ritter allmählich die Liebesgeschichte des Mädchens bei.

Schrecklich wütete darauf der Burgherr. Er wollte den Priester zwingen, ihm den Aufenthalt der Geflüchteten zu entdecken. Als dieser sich standhaft zeigte, schleppte er den Greis in das Turmgemach und ließ ihn durch die Falltüre zu ewiger Haft in das dunkle Burgverlies hinab. Auch tat der Ritter den Schwur, seinem ungeratenen Kinde nie zu verzeihen, und sollte er eidbrüchig werden, so möge ein jäher Tod ihn ereilen und sein Geist keine Ruhe finden.

So verstrichen Monate, bis der Winter heranbrach und tiefer Schnee das Land bedeckte. Eines Tages zog der mißmutige Reinard hinaus in seine Waldungen auf die Bärenjagd. Als er die wilden Ufer der Donau erreicht hatte, trat ihm eine in Tierfelle gehüllte, gänzlich verwilderte Gestalt in den Weg, die ihm mit Gebärden winkte zu folgen — Es war der unglückliche Rudolf.

Der furchtlose Ritter folgte ohne Zagen dem Waldbewohner, der ihn an eine Höhle führte und ihm dort das Jammerbild seines einzigen Kindes zeigte. Mit Lumpen bedeckt, einen Säugling an der Brust, nagte sie eben das Fleisch von den Gebeinen eines erlegten Wildes.

Dieser Anblick ergriff des Ritters Vaterherz mit Allgewalt. Von dem Lallen seines Enkels tief gerührt, faßte er seine Tochter in die Arme und sprach das schöne Wort der Verzeihung. Eteline wurde nach Greifenstein gebracht und Reinard eilte sogleich nach dem Verließe, den edlen Emmerich zu befreien. Da faßte ihn aber der finstere Geist des gebrochenen frevelhaften Eides. Er glitt an der Treppe aus, stürzte hinab und brach das Genick. Seine Hand hatte krampfhaft den Schlußstein der Treppe ergriffen und sich daran eingeklammert. So fanden ihn die Seinigen.

Rudolf, der nun Herr des Schlosses war, vollzog dankbar Emmerichs Befreiung, den er stets wie seinen Vater liebte und ehrte. Auch würde fortan nichts mehr das Glück Rudolfs und Etelinens gestört haben, hätten sie nicht entdecken müssen, daß Reinards Geist in den Stunden der Mitternacht die Hallen der Burg und vorzüglich die Treppe auf- und abwandle und dabei den erschrockenen Burgbewohnern verkünde, er würde erst eingehen zum ewigen Frieden, wenn der Stab, den Emmerich, als man ihn aus dem Verließe befreite, daselbst in einen Ring hing, von selbst aus dem Ring fallen und der Stein, an dem er sich im Todeskampfe gehalten halte, voneinander springen würde. Seitdem griff jeder seiner Nachkommen an den bezeichneten Stein, um ihn morsch zu machen und wenigstens auf diese Weise zur Erlösung des irrenden Schattens beizutragen. Daher erhielt auch Reinards Burg und Geschlecht den Namen: Greif an den Stein.

Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958

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