DIE PFALZGRÄFIN GENOVEVA

Zu Pfalzel, sonst Pfälzel (kleine Pfalz) an der Mosel, steht ein getürmtes Haus, das Genovevenhaus geheißen, da lebte zu Erzbischof Hildulfs von Trier Zeiten ein Pfalzgraf Siegfried, der eine treue und fromme Gemahlin sein Eigen nennen konnte, eine Tochter des Herzogs von Brabant.

Es geschah einmal, daß dieser Pfalzgraf Siegfried in das Heilige Land ziehen mußte. Sein Weib ließ er in seiner Grafschaft am Moselstrome zurück und übergab sie in die Obhut eines vertrauten Dienstmannes, der den Namen Golo trug. Bevor der Herr von hinnen schied, nahm er herzlich Abschied von seiner Frau und seinem lieben kleinen Söhnchen, das eben erst geboren ward. Golo war aber ein schlimmer Hüter. Er entbrannte in sündiger Liebe zu der schönen Gräfin und begann arge Ränke zu schmieden, um sie zu verderben, da sie seinen Nachstellungen ohne Wanken widerstand. Er schrieb falsche Briefe, als sei Siegfried mit aller Mannschaft im Meere ertrunken, und las sie der Pfalzgräfin vor, gestand ihr seine Liebe und wollte sie umarmen. Sie wehrte ihn jedoch mit einem Faustschlag ins Gesicht ab. Nun verwandelte sich seine Liebe in bitteren Haß, wie es immer zu geschehen pflegt, wenn der Mensch von Leidenschaften gerüttelt wird. Er entzog der frommen Frau alle Bedienung, quälte und drangsalierte sie, daß ihr nur mehr eine alte Waschfrau als treue Hilfe blieb. In dieser Zeit, da ihre Not am höchsten stand, kam Botschaft in die Burg, daß der Pfalzgraf lebe und auf der Heimkehr begriffen sei. Darüber erschrak natürlich Golo, der Erzverräter und Erzschelm, bis zum Tode und suchte Rat bei einem alten Hexenweibe, wie er sich aus der mißlichen Lage befreien könnte. Diese Hexe gab ihm einen teuflischen Ratschlag: Golo solle dem Pfalzgrafen einreden, der schone Sohn Genovevas sei gar nicht sein echtes Kind, sondern eine Frucht der Sünde. Er hätte es selbst angesehen, wie die Grafin sich früher schon von Draco, dem Koche, habe herzen lassen. Seinem Herrn habe er die Schmach bis jetzt verschwiegen, um nicht seinen Sinn zu trüben. Jetzt dürfe er aber das Geheimnis nicht mehr bei sich behalten, da die Herrin in der Sünde fortfahre.

Diesen Rat horte Golo und behielt ihn in seiner teuflischen Brust. Unverzüglich ritt er seinem Herrn entgegen und vermeldete ihm die ganz und gar erlogene Geschichte.

Wie wurde dem Pfalzgrafen Siegfried das Herz darüber schwer! Betrübt zog er seiner Heimat zu und wußte nicht, wie er sich des ehebrecherischen Weibes, das seine Ehre geschändet hatte, entledigen könnte. So sehr hatte er seine Gemahlin geliebt und so tief wähnte er sich jetzt von ihr betrogen! Hätte er doch nicht sein Ohr dem bösen Lügner geliehen! Golo trieb sein verleumderisches Spiel weiter. Er trug dem Pfalzgrafen an, daß er Genoveva samt ihrem Sohne an ein Wasser führen und sie beide ersaufen wolle. Siegfried willigte in seinem Schmerze ohne Besinnen ein. Darauf bestellte Golo zwei Knechte, die mußten Genoveva und ihr armes Kind hinwegführen und sollten die Unschuldigen ermorden, so oder so. Unterwegs aber jammerte den Knechten die schöne Frau und das liebe Kind und sie sprachen untereinander: „Was kann diese Frau verbrochen haben? Was hat sie gerade uns getan? Was kümmert uns der ganze Handel? Sollte ihr zu sterben bestimmt sein, brauchen wir ihr doch nicht das Leben rauben. Wir wollen dem Hund, der da mit uns läuft, die Zunge ausschneiden und Golo zeigen zum Wahrzeichen, daß wir die Frau getötet haben. So ziehen wir uns auf die beste Art aus dem üblen Handel und belasten unsere Seele nicht mit einer schwarzen Mordtat.“

Nach diesem Plan handelten auch die Knechte. Sie schnitten dem Hund die Zunge aus dem Halse und ließen die arme Genoveva mit ihrem Kinde trostlos und weinend in der öden Wildnis zurück. Das Kind nannte Genoveva in ihrer Not Schmerzensreich. Es war noch so klein und hatte dringend Milch nötig. Der Mutter versiegte aber alle Nahrung in ihrer Brust. Da flehte die arme Frau zu der Mutter aller Schmerzen und aller Seligkeiten, und die ewige Jungfrau neigte der Verlassenen liebend ihre Gnade zu. Aus dem Waldesdickicht trat eine Hindin, die lagerte sich vor Genoveva hin, und Genoveva legte ihr Söhnlein an die Zitzen des Tieres, sich selbst aber nährte sie mit dem, was der Wald bot. Später baute sie für sich und ihren Sohn eine Hütte aus Holzstämmen, Reisig, Dornen und Moos, darin blieb sie sechs Jahre und drei Monate und sah kein anderes Wesen als die treue Hindin.

Da geschah es, daß der Pfalzgraf Siegfried einmal in dieser Gegend des Waldes jagte. Die Hunde trieben Genovevas Hirschkuh auf und jagten das Tier bis zu der Waldhütte, wohin die Hindin in ihrer Not entfloh. In banger Angst kniete das verfolgte Tier zu dem Knaben hin und Genoveva wehrte die nachsetzenden Hunde mit einem Stock ab. Jetzt kam auch der Pfalzgraf nach und besah mit Staunen das wunderschöne Weib des Waldes, das fast keine Kleidung hatte, um ihre Blößen zu decken, und mit verstörtem Blick die Menschen um sich musterte. Siegfried vermeinte, es sei etwa ein verlaufenes heidnisches Weib oder eine Zigeunerin und rief sie an „Bist du eine Christin?“ — Sie antwortete darauf „Ich bin eine Christin wohl, aber gib mir deinen Mantel, daß ich mich bedecke.“ Diese Bitte erfüllte auch der Ritter und fragte sie weiter, warum sie keine Kleider habe und so einsam in dem wilden Walde hause. — „Meine Kleider sind vor Alter verschlissen“, gab sie zurück. — „Wie lange wohnest du bereits in diesem Walde? Und wessen ist der Knabe? Wer ist sein Vater und wie heißest du selbst?“ Auf diese Fragen antwortete Genoveva: „Sechs Jahre und drei Monate wohne ich schon einsam in dem Tann. Der Knabe ist mein Sohn und seinen Vater kennt Gott so gewiß, wie ich ihn kenne. Genoveva ist mein Name!“

Bei diesem letzten Worte erschrak der Pfalzgraf bis in seine tiefste Seele, und ein Kämmerling trat zu ihm und sprach: „Herr, trügt mich nicht die Erinnerung, so ist das wahrhaftig unsere Frau, die schon so lange gestorben sein soll. Schaut doch zum Wahrzeichen nach dem Muttermal an ihrem Halse!“ — Siehe, sie trug das Mal wirklich an der bezeigten Stelle. Der Pfalzgraf war an die Seite getreten und wußte nicht, was er beginnen sollte. Zu seinem Kammerherrn sprach er mit belegter Stimme: „Sehet noch einmal, ob sie den Trauring traget!“ - Und sie trug ihn noch und es kam über den Pfalzgrafen ein unsäglicher Schmerz und eine tiefe Reue. Weinend eilte er zu Genoveva hin, schlang die Arme um sie und küßte ihren roten Mund, herzte den Knaben und rief dabei: „Ja, das ist mein Weib! Das ist mein Sohn!“

Genoveva, die gerne dem Gemahl allen Zweifel und Kummer verzieh, erzählte, wie es ihr bei Golos Verrat ergangen sei und wie sie seinen Teufelskünsten habe weichen müssen. Gerade bei dieser Erzählung nahte der Verbrecher selbst, der sich keiner Gefahr versah. Auf der Stelle fielen ihn die Mannen des Pfalzgrafen zornentbrannt an, denn sie hatten immer ihre Herrin aus ganzem Herzen geliebt und verehrt. Doch der Pfalzgraf Siegfried gebot ihnen Einhalt und entschied, daß dieser Schuft und Verleumder des Todes durch Ritterhand nicht wert sei. Vier Ochsen wurden genommen, die noch an keinem Pfluge gezogen hatten. An jeden Fuß und an jede Hand des Missetäters wurden Seile gelegt und an die Ochsen gespannt. Diese trieb man darnach nach allen vier Seiten und so ward Golo bei lebendigem Leibe in vier Teile zerrissen. Auf diese Art richtete man in alten Zeiten gerne meineidige und verbrecherische Sünder.

Siegfried wollte jetzt seine Gemahlin auf sein Schloß führen und wieder aller Ehren teilhaftig werden lassen. Sie willigte aber nicht ein, sondern sprach: „Hier an diesem Orte hat die heilige Jungfrau mich beschirmt und behütet, hier hat sie die wilden Tiere unsichtbar abgewehrt, durch die Hindin mein Kind erhalten und mir in ärgster Not Nahrung gegeben. Dieser Ort soll meine Stätte bleiben und der Königin aller Engel geweiht werden.“ Diesem frommen Wunsch willfahrte auch der Pfalzgraf. Seine Gemahlin wohnte nun unter einem besseren Dach, allein sie konnte die kräftigeren Speisen nicht mehr vertragen, sondern blieb bei der gewohnten Waldkost. Ihre Kraft war verloren und sie lebte nach dem Wiederfinden nur noch wenige Tage. Froh und selig entschlief sie in dem Herrn und ruhte in der neuerbauten Waldkapelle zu Unser Frauen Kirchen, unweit Mayen; es sind allda später manche Wunder geschehen. Die Geschichte der schönen Genoveva ging hernach durch die ganze Welt. Die Menschen trauerten über ihr Leben und Sterben. Nicht allein im Pfälzel, sondern auch in Mayen, das im Maifelde liegt, wird ein Genovevenhaus gezeigt, und die Frauenkirche alldort soll die rechte sein. Bisweilen soll man noch Genoveva hinter dem Hochaltar sitzen und spinnen sehen.

Quelle: Im Reich der Sage; Otto Wutzel; Oberösterreichischer Landesverlag Linz;
4. Auflage 1958

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