Ein Wettlauf mit dem Tod

In der Blumauergasse, nahe dem Südwesteingang zur Burg Steyr, steht, von den weitausgreifenden Ästen zweier mächtiger Lindenbäume und anderer Bäume liebevoll behütet, eine große, zu eben dieser Burg gehörende und aus dem 18. Jahrhundert stammende schöngebaute barocke Kapelle. In ihr steht auf einem hohen, schöngearbeiteten steinernen Sockel die lebensgroße Statue des heiligen Nepomuk. Den Sockel zieren Spiralen, uralte Sonnen­sinnbilder, das erhaben gemeißelte gräfliche Wappen und die Krone des hochberühmten Geschlechtes der Lamberger, deren einer die Kapelle erbauen ließ.

Ober dem unbedeckten Haupt des Heiligen windet sich der Heiligenschein in der Form eines eisernen Reifens mit fünf goldenen Sternen. Zu seinen Füßen ruhen zwei niedliche kleine Engel. Die Kapelle ist mit einem niederen, schöndurchbrochenen, steinernen Gitter geschlossen.

Diese Kapelle wurde, wie eine mündliche Überlieferung besagt, an der Stelle einer längst verfallenen uralten Kapelle erbaut, von der eine alte Sage die Erinnerung an eine tiefmenschliche Tragödie wachhielt, die sich als Sage auch auf die Nepomuk-Kapelle übertragen hat. Die nur wenigen Steyrern bekannte und fast vergessene Sage, die weit in die Christianisierungszeit zurückreicht, soll hier erzählt werden.

Als Steyr schon eine ziemlich große Siedlung, aber noch lange keine Stadt war und auch die prächtige und wumchtig wirkende Steyrburg noch nicht zwischen den beiden grünen Alpenflüssen, der Enns und der Steyr, auf spitz zulaufender Anhöhe majestätisch thronte, lebte und werkte an dem Wasser der grünen Steyr ein Müller, der eine schöne, liebreizende Tochter hatte.

Noch lagen hier römische Legionssoldaten im Quartier, die von einem hohen Wachtturm die Flußübergänge bewachten und scharf ins Land lugten; denn es war noch die Zeit, da das weltweite Rom das Land diesseits der Donau in Besitz hatte und beherrschte. Das Christentum hatte durch eifrige Sendboten hier im Volke bereits Eingang gefunden, aber es gab noch viele Heiden, die um so fanatischer den alten Göttern anhingen. Auch der Müller war noch solch ein fanatischer Heide, der den Göttern zu gewissen Zeiten seine Opfer darbrachte. Seine einzige Tochter aber war heimlich Christin geworden und hatte sich taufen lassen.

Das Mädchen war wegen seiner Schönheit und sonstigen guten Eigenschaften viel von Freiern umworben, von denen mancher das liebreizende und in frischer Jugend prangende Wesen gerne als Frau in sein Haus geführt hätte. Unter diesen Freiem suchte sich ihr Vater einen aus, den er als Gatten für seine Tochter haben wollte. Es war einer der schönsten jungen Männer, aber er war, ebenso wie der Müller, noch ein Heide. Als der Müller seiner Tochter den Freier bekanntgab, den er für sie bestimmt hatte mit dem Wunsche, daß sie ihn heiraten möge, lehnte sie entschieden ab und bat ihren Vater, diesen nicht zum Manne nehmen zu müssen, denn sie sei, was der Vater ihr verzeihen möge, Christin geworden und könne keinen Heiden, sondern nur einen Christen, sofern ihr einer gefiele, zum Manne nehmen.

Die Enttäuschung des Vaters über den von seiner Tochter ohne sein Wissen erfolgten Übertritt zum Christentum und ihre Weigerung, den ihr vorgeschlagenen jungen Mann zu heiraten, versetzte den Vater in maßlose Wut. Er forderte die von den Göttern abtrünnig gewordene auf, von dem Christengotte zu lassen und wieder den Göttern zu opfern, was sie aber ablehnte. Sprühend vor Zorn über die Halsstarrigkeit seiner Tochter ergriff er ein Beil, um sie zu töten; denn er wollte sie lieber tot als vom alten Glauben abgefallen wissen.

Furchtbar erschrocken über das Beil in der Hand des rasenden Vaters und von Todesangst getrieben, lief sie aus dem Hause, lief. den steilen Hang hinan und fort auf dem Sträßlein, das hinauf zur Anhöhe führte. Der Vater aber raste voll Wut und in wilder Hetzjagd mit dem Beil in der Hand hinter ihr her. Das Mädchen, in Todesangst am ganzen Körper zitternd, mit aufgelösten Haaren, die im Wind flatterten, die Augen hilfesuchend in die Ferne gerichtet, lief keuchend auf der Straße fort. Als es schon am Ende seiner Kraft war und hinzustürzen drohte, holte es der Vater ein, hob das schwere Beil hoch auf und führte einen wuchtigen Schlag auf das Haupt des Mädchens, das auf die Erde hinstürzte und sein Leben aushauchte. Durch die ungeheure Aufregung über seine entsetzensvolle Tat vom Herzschlag getroffen, brach der Vater zusammen und fiel tot neben seine Tochter hin. Das schöne Mädchen war mit dem Tod um sein junges Leben gelaufen. Sieger geblieben aber war der Tod. Der unvorstellbare religiöse Haß, der nicht einen Funken Liebe erkennen ließ, hatte auch dem Vater das Leben gekostet.

Das Volk ließ zur Sühne für diesen Mord an der Stelle dieses grausigen Geschehens eine Kapelle errichten; diese ist aber längst den Weg alles Irdischen gegangen. Geblieben ist aber eine uralte Sage, die fortdauernd, sich um die heutige Nepomuk-Kapelle rankt.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

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