Der Ring des Schloßherrn

Wer von Steyr in die Freising wandert, der kommt nach einer halben Stunde am "Galgenberg", auch "Galgenböndl" genannt, vorüber und hat dann nicht mehr weit zum stattlichen Bauernhof "Meir zu Baumgarten". Dieser schöne Vierkanthof liegt am Fuße eines langen Höhenzuges hart an der Eisenstraße. In nächster Nähe befindet sich ein großer Teich, der durch einen Damm in zwei ungleiche Teile geschieden ist.

Eine alte Sage erzählt: Vor langer Zeit ist an Stelle des Bauernhauses ein großes Schloß gestanden, das ein reicher, aber geiziger Mann zu eigen hatte. Das Schloß, der Teich und ein großer Teil des Grundes sind von einer Mauer umfangen gewesen, von welcher der kleine, verwitterte Überrest herrühren soll, der den jetzigen Bauernhof von der Bundesstraße scheidet.

Eines Tages, als der Schloßherr auf seinem Pferde am Ufer des Teiches ritt, trat ihm ein Bettelweib entgegen und sprach ihn um eine kleine Gabe an; er aber wies das Weib mürrisch ab. Die Bettlerin rief hierauf dem Schloßherrn mit erhobener Stimme zu:

"Heute bist.du noch reich, bald aber wirst du auch arm werden und froh sein, wenn dir jemand eine Gabe reicht." Ob dieser merkwürdigen Prophezeiung sah der Reiter verdutzt auf das Bettelweib, dann zog er seinen goldenen Ring vom Finger und warf ihn weit hinaus in den Teich, dessen Wasser den Ring mit einem glucksenden Ton verschlang. Dann sprach er: "So wenig dieser Ring je wieder in meine Hand zurückkommt, so gewiß ist es, daß ich nicht arm werden kann!" Eilig ritt er davon.

Dienstleute des Schlosses fingen nach einigen Tagen Fische aus dem Teich, die für die herrschaftliche Tafel zubereitet wurden. In einem der Fische fand sich ein Ring, der als das Eigentum des Schloßherrn erkannt und ihm übergeben wurde. Dieser nahm ihn wortlos und nachdenklich entgegen. Durch Schicksalsschläge verlor der Schloßherr bald darauf Hab und Gut und als Bettler fristete er sein Leben bis an das Ende seiner Tage. Und so war die Voraussage des Bettelweibes in Erfüllung gegangen.

Diese Sage, die eine ausgesprochene Wandersage ist, mag früher einmal anders gelautet haben; denn es ist nicht recht glaublich, daß ein Geizhals seinen goldenen Ring in den Teich wirft. Aber eines ist gewiß: Wir haben hier, wenn auch in anderer Fassung, die Polykrates-Sage vor uns, die der gelehrte griechische Weltreisende Herodotos in seinen "Geschichten" erzählt.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

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