Die Volkssage vom Ofen

Wer von Laussa bergwärts wandert, kommt nach einer halben Stunde zu einem ungemein steilen, mit Gras und spärlichem Buschwerk bewachsenen Hang, der sich zwischen zwei Bergen, dem Ofenspitz und dem Gschwandtnerkogel, schier senkrecht emporbaut. Man nennt diese steile Wand, die den Übergang nach Stiedelsbach-Losenstein sperrt, kurzweg den „Ofen“, an den sich folgende Sage knüpft:

Es ist schon sehr lange her, da lebte ein armer Kerblzeiner (Korbflechter) mit Weib und sieben Kindern in einem Häuschen in Stiedelsbach. Der Verdienst des Mannes war zu gering, um die große Familie ordentlich ernähren zu können. Es fehlte hauptsächlich an Brot. Wenn die Kinder zur Mutter um Brot bitten kamen, dann machte die Mutter immer den Stoßseufzer: „Gott, o Gott, das liebe Brot!“ Denn es lag gar oft keines in der Tischlade.

Eines Tages, früh am Morgen, stieg der Körblzeiner den Kirchenberg hinan, um sich ein schön gewachsenes, astreines und leicht spaltbares Haselnussholz zum Flechten für Zöger und Körbe zu holen. Auf der Suche nach einem solchen brauchbaren Holz kam er immer weiter und weiter, bis er sich in dem steilen Gelände befand, das die Leute den „Ofen“ nennen.

Wie er so auf dem Hange umherstieg, stand er plötzlich vor einer ihm bisher unbekannten Höhle, die weit hinten, wie von einem Feuer beleuchtet war und wo er Bergmännlein geschäftig hin- und hergehen sah. Und es strömte ihm angenehmer und duftiger Brotgeruch wie aus einem Backofen entgegen. Da hob sich aus seiner Sorgenbrust ein lauter Seufzer: „Du lieber Gott, wenn ich nur auch genug Brot für meine Kinder hätte!“ Da kam ein Männlein mit langem, grauem Barte, eine färbige Schürze vorgebunden, aus der Höhle und überreichte dem Korbflechter einen schönen warmen Brotlaib und sagte: „Da hast du einen Laib Brot, davon könnt ihr nach Bedarf essen, aber ihr dürft den Laib nie ganz aufessen, sondern abends immer ein Scherzchen übrig lassen, dann werdet ihr immer genug Brot haben. Übertretet aber ja nicht mein Gebot!“ Zur Bekräftigung seiner Worte hob das Männlein warnend seinen Zeigefinger. Freudigen Herzens dankte der Körblzeiner dem Männlein.

Er teilte daheim das Gebot des Bergmännleins mit und trug allen strenge auf, das Gebot zu achten. Das Wunder vollzog sich alle Tage: abends das Scherzlein in die Tischlade gelegt, am Morgen war es immer ein ganzer Laib. Das ging jahrelang so fort und es gab immer genug Brot.

Die Kinder wurden größer und mit ihnen wuchs der Appetit. Eines Tages aßen sie alles Brot und es blieb kein Scherzlein ürig. Kein Laib war am Morgen in der Tischlade. Groß war der Schrecken. Langsam kehrte die Not wieder ein ins Häuschen.

Voll Kummer bat das Weib ihren Mann, doch wieder zur Höhle zu gehen und das Männchen um Brot zu bitten. Er tatsmit kummervollem Herzne. Aber kein Bergmännchen war zu sehen und zu hören; die Höhle war geschlossen. Seit jener Zeit nennt man den steilen Berghang den „Ofen“.

Quelle: Sagen und Legenden von Steyr, Franz Harrer, Verlag Wilhelm Ennsthaler, Steyr, 3. Auflage 1980,
ISBN 3-85068-004-5

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 
designed by © Norbert Steinwendner, A 4300 St. Valentin