Der Kalterer See

Wo jetzt der Kalterer See in Tirol liegt, da dehnten sich vor Jahrhunderten gesegnete Fluren aus, verschwenderisch ausgestattet mit allem, was die mütterliche Erde, gelockt vom goldenen Strahl der Sonne, aus ihrem Schoße entwickelt.
Aber die Menschen waren auf diesem reichen Gefilde böse und mißbrauchten den Segen zur Sünde und zu jeglichem Frevel. Dafür ereilte sie die Strafe des Himmels.

An einem heißen Sommertage ging Christus der Herr mit dem heiligen Petrus hinaus in die weite Welt, um das Treiben der Menschen zu sehen. Sie kamen auch in die große, schöne Stadt, die sich da ausbreitete, wo jetzt die Wellen des Sees vom leichten Luftzuge bewegt werden. Ein heißer Wind wirbelte den Staub auf der Straße empor; die Füße des Heilandes waren mit Staub bedeckt und brennender Durst quälte ihn und seinen Begleiter.

Christus bat für sich und den heiligen Petrus in der Stadt um einen Trunk klaren Wassers, das die Qualen des Durstes lösche, und um ein Gefäß, um den Staub von den Füßen und Händen zu waschen. Allein die hartherzigen Menschen wiesen ihn ab und mahnten ihn, von der Quelle zu trinken, die am Wege sprudle.

Am Ende der Stadt aber stand auf einem Hügel das Häuschen einer armen Frau. Da trat der Heiland mit seinem Begleiter ein und verlangte ein Gefäß mit Wasser. Die Frau war gutmütig und dienstfertig; sie brachte dem Heiland Brot, das sie im Gebirge von guten Leuten erbettelt hatte, und setzte ihm Wasser zum Trunke vor. Jesus erquickte sich daran und reichte die Schale an Petrus, damit auch er trinke. Den Rest des Wassers goß er zum Fenster hinaus. Und sieh: das Wasser schwoll an zum reißenden Strome, der sich im Tale sammelte und bald die Stadt mit seinen Fluten bedeckte. In wenigen Stunden füllte das zerstörende Element das ganze Tal aus; nur das Häuschen der frommen Frau ward verschont. Die ganze Stadt ging zugrunde und der Kalterer-See blieb als warnendes Denkzeichen im Tale zurück.

Nach M. Lehmann

Quelle: Österreichisches Sagenkränzlein

© digitale Bearbeitung Norbert Steinwendner, St. Valentin, NÖ.

 

 
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