Das Bergmännlein als Schafhirte

Vor langer Zeit lebte auf den Huttererböden ein altes Bergmännlein. Es war arm, trug immer zerrissene Kleider und war froh, daß es der Sennerin das Hüten der Schafe abnehmen durfte. Das Männlein tat dies mit Sorgfalt und Wachsamkeit, und die Sennerin war mit ihm zufrieden. Die Herde gedieh und vermehrte sich unter seiner Aufsicht wunderbar.

In der Nähe einer Almhütte stand ein alter Baumstock, zu dem die Sennerin am frühen Morgen die Schafe trieb. Dort saß das Männlein und wartete auf die Herde. Es streifte mit den Tieren die saftigsten Plätze ab. Erst am Abend kam es wieder zum Vorschein. Dann trieb das Bergmännlein die Herde zum Holzstock. Hier wurde es von der Sennerin mit einer Schüssel süßer Milch belohnt.

Das ging Tag für Tag und Jahr für Jahr so fort, bis einmal der Almbauer das Männlein beim Hüten der Schafe bemerkte. Nun erst erzählte die Sennerin dem Bauern, wie gut es die Schafe seit langem hüte. Der Ahnherr beschloß, das Männlein für seinen großen Eifer zu belohnen. Er ließ ihm beim Schneider neue Kleider anfertigen: ein nettes graues Gewand mit roten Aufschlägen.

Die Sennerin legte diese Kleider auf den alten Holzstock und versteckte sich in der Hütte, um das Bergmännchen zu belauschen. Nach einiger Zeit erschien es, um seinen gewohnten Dienst zu verrichten. Als es die Herde nicht erblickte, begann das Männlein zu suchen und entdeckte auf dem Holzstock das Geschenk. Erstaunt näherte es sich dem Stock, nahm bald das Röcklein, bald das Höschen vorsichtig zur Hand und betrachtete beides erfreut. Endlich schlüpfte es rasch in die neuen Kleider und sah mit großen Augen an seinem neuen Gewand hinunter, zupfte einmal am Ärmel, richtete sich dann die Bügelfalte. Hierauf begann es einen übermütigen Freudentanz um den Stock aufzuführen, und dabei sang es mit krächzender Stimme: „Ich bin ein Edelmann, ich nicht mehr Schäflein hüten kann.“ Dann war es verschwunden.

Nie mehr ließ sich das Bergmännlein auf der Alm blicken, denn als Edelmann war es ja wirklich zu gut zum Schafeln.

Quelle: Heimatkundliches Lesebuch, Bezirk Kirchdorf an der Krems
Herausgegeben von einer Arbeitsgemeinschaft des Pädagogischen Institutes des Bundes für Oberösterreich, Verlag Quirin Haslinger, Linz
ISBN keine

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