Der Schneider und der Kobold
Niederösterreich

In Baden bei Wien lebte einmal ein Schneider, der keiner von den ehrlichsten war. Sooft er einen Mantel, einen Anzug oder auch nur eine Hose zu machen hatte, schnitt er die Stoffe so knapp zu, daß jedesmal ein hübsches Stück davon übrigblieb. Statt aber die Reste seinen Kunden zurückzugeben, behielt er sie und schneiderte daraus Bubenhöschen, Röcklein oder Westen, die er dann für eigene Rechnung verkaufte. Waren die Stoffreste nur klein, dann flickte er damit durchgesessene Hosenböden oder zerschlissene Ärmel und bekam auch dafür bezahlt. Manchmal wunderte sich freilich eine Kundin, daß von dem reichlich zugemessenen Zeug nichts übriggeblieben sein sollte. Doch der unredliche Meister verstand es, sie mit der unschuldigsten Miene davon zu überzeugen, daß das Tuch doch nur eben gereicht habe. so daß er beim besten Willen davon keinen Faden habe erübrigen können.

Eines Morgens aber bemerkte der Schneider, daß einer der zurückbehaltenen Stoffreste, den er am Abend .vorher für eine Arbeit bereitgelegt hatte, über Nacht viel kleiner geworden war. Er glaubte, daß er sich geirrt hätte. Als er aber dann Morgen für Morgen das gleiche auch an anderen Stoffresten feststellte,, da argwöhnte er, daß sich irgend jemand während der Nacht in die Werkstatt schleiche, um ihm diese Possen zu spielen. Wie aber konnte das geschehen? Das einzige Fenster der Werkstätte war vergittert, die Tür über Nacht immer gut versperrt, und außerdem schlief er in der Werkstatt und wäre beim leisesten Geräusch aufgewacht. Ein gewöhnlicher Dieb konnte es also nicht sein!

Tagelang fand er keine Ruhe und für das rätselhafte Schwinden der Stoffe auch keine Erklärung. Dann aber kam ihm ein guter Gedanke! Der Pfarrer von Baden hatte ihm ein prächtiges Tuch für eine neue Hose gebracht. Auch dieses schnitt er so geschickt zu, daß ein ansehnliches Stück übrigblieb, aus dem sich ein hübsches Bubenröcklein machen ließ. Damit das Tuch aber nicht wieder über Nacht kleiner werde, breitete er es auf dem Zuschneidetisch aus und befestigte es mit Nägeln auf der Tischplatte. Von diesem Einfall war er so begeistert, daß er sich stolz die Hände rieb und sich selber lobte: „Das hab ich großartig gemacht! Von diesem Stoff wird morgen früh bestimmt nichts fehlen!“
Aber am nächsten Morgen war der Stofffleck kleiner als je! Irgend jemand hatte bei Nacht die Nägel herausgezogen, ein Stück vom Stoff abgeschnitten und den Rest wieder auf der Tischplatte befestigt.

Da machte der Schneider freilich ein langes Gesicht, und er grübelte abermals, wie das nur zugehen konnte. Er fand aber keine Erklärung dafür.

Um diesem rätselhaften Verschwinden ein Ende zu machen, beschloß der Meister, von nun an die erübrigten Stoffreste nicht mehr über Nacht liegen zu lassen, sondern sie gleich zu verarbeiten und das Kleidungsstück, das er daraus gemacht hatte, noch am Abend den Kunden zu liefern. Das ging freilich nur so lange, als er wenig zu tun hatte. Sobald sich aber die Äufträge häuften, mußte er oft bis spät am Abend arbeiten, um die Kleider zur gewünschten Zeit fertigzumachen. Da blieben die Stoffreste wieder liegen und wurden, ob er sie aufnagelte oder nicht, über Nacht so klein, daß sie nicht einmal mehr zu Flickarbeiten reichten.

Nun versuchte der Schneider etwas Neues. Er legte sich wie jeden Abend nieder, wollte aber wach bleiben, um die rätselhafte Sache zu beobachten. Für alle Fälle nahm er einen Knüppel mit ins Bett. Falls er einen Dieb auf frischer Tat ertappe, wollte er ihn ordentlich verprügeln. Es schlug neun, dann zehn und schließlich elf, aber es rührte sich nichts. Indessen war der Schneider im warmen Bett so schläfrig geworden, daß ihm die Augen zufielen und er einschlummerte.

Als es aber Mitternacht schlug, fuhr er aus dem Schlaf auf. Er hob den Kopf und blickte um sich. Das silberne Licht des Vollmonds fiel durch das vergitterte Fenster gerade auf den großen Tisch, auf dem der Schneider am Abend einen Mantel für den Förster zugeschnitten und den Rest des grünen Lodens liegen gelassen hatte. Im nächsten Augenblick sprang ein nacktes Männlein mit einer riesigen Schere vom Boden auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Tisch und schnitt von dem Tuch ein mächtiges Stück ab. Dann machte es mit einer flachen Kreide einige rasche Striche darauf, ließ die Schere nach den Strichen laufen und legte den herausgeschnittenen Flecken an die Hüften und Beine, um zu sehen, ob das Höslein, das es daraus schneidern wollte, auch passe. Schließlich setzte es sich mitten auf den Tisch, schlug die dünnen Beine wie ein richtiger Schneider übereinander, nahm Nadel, Zwirn und Fingerhut zur Hand und begann eifrig zu nähen.

Jetzt wäre es für den Schneider Zeit gewesen, aus dem Bette zu springen, das Männlein mit dem Knüppel zu schlagen und aus der Werkstätte zu vertreiben. Aber er wagte sich nicht zu rühren, das Herz pochte ihm bis zum Halse, und der Schweiß trat ihm aus allen Poren.

Als es eins schlug, legte der kleine Kobold Fingerhut, Nadel und Zwirn weg und schlüpfte in die fertige Hose. Sie paßte ihm wie angegossen. Er tat einen Freudensprung, packte sein Werkzeug, drehte dem Schneider im Bett eine lange Nase und war gleich darauf wieder verschwunden.
Der Meister wagte sich auch jetzt noch nicht aus dem Bett. Er zog die Decke über den Kopf, und weil s nun wieder ganz still war, schlief er schließlich ein.

Beim ersten Hahnenschrei jedoch sprang er mit beiden Füßen zugleich aus den Federn, um zu sehen, ob sein nächtliches Erlebnis nicht bloß ein Traum gewesen sei. Doch es fehlte wieder ein großes Stück von dem Tuch, das er sich unredlicherweise hatte behalten wollen. Mit dem Rest konnte er nichts mehr anfangen.

Erst ärgerte sich der Schneider gewaltig über den kleinen Dieb. Dann wurde er nachdenklich, und‘ schließlich schämte er sich. Er nahm sich vor, von nun an seinen Kunden die Reste von ihren Stoffen getreulich zurückzugeben.

Was er sich vorgenommen, hielt er auch. Jetzt konnte er wieder ruhig schlafen und genoß bald den Ruf eines besonders ehrlichen und gewissenhaften Meisters. Der kleine boshafte Kobold aber ließ sich nie mehr in seiner Werkstatt blicken.

Quelle: Alpensagen; Max Stebich; Verlagsbuchhandlung Julius Breitschopf jun.; 1958

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